Weihnachten/Silvester zu Corona-Zeiten

Stille. Nur das Ticken der Küchenuhr, einem besonders alten Exemplar, sie muss bestimmt schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel haben, und das leise Pfeifen des peitschenden Windes um das Haus ist zu hören.

Der Kalender zeigt den 24. Dezember an, für viele ein ganz besonderer Tag im Jahr, für andere ein Tag wie jeder andere.

Der große Christbaum steht im gemütlich nach Kerzen duftenden Wohnzimmer, in dem ein Hauch von gebackenen Zimtsternen in der Luft liegt. Doch obwohl in dem Herzen des Hauses eine ganz und gar zufriedene Stimmung herrschen sollte, ist diese nicht vollkommen.

Die Eiseskälte, die draußen ihre kalten, zittrigen Hände in alle Richtungen ausstreckt und die ganze Stadt bedrohlich-lieb zu umarmen scheint, hat sich ihren Zutritt in die Wohnung verschafft.

Durch Ritzen und nicht ganz isolierte Fenster kommt die Kälte gekrochen, doch wird sie größtenteils von der steinern-hölzernen Hausfassade abgewehrt.

Jedoch bleibt das Gefühl des leisen Erschauerns in der sonst so heiligen Nacht.

S. blickt aus dem Fenster des kleinen Hauses an der Straßenecke, an der sich die Schneeberge türmen. Schnee geschippt hat sie in den letzten Tagen zur Genüge. Generell hat S. gerade in den letzten Wochen und Monaten viele harte Arbeitsstunden unter schweren Bedingungen hinnehmen müssen.

„Dieses blöde Virus“ denkt sie laut, „warum musste das gerade jetzt auftauchen? Warum bei uns?“

Ihre Stirn legt sich langsam in Falten und das Gesicht wird noch etwas bleicher als es ohnehin schon ist. Man sieht geradezu, wie sie denkt, nachdenkt über ihre eigene Situation und die der anderen Menschen, denen es ähnlich ergeht.

Obwohl sie schon wie jedes Jahr weit im Voraus Weihnachtslieder gehört hat, kommt sie nicht so richtig in Stimmung. Als würde das Weihnachtsfest nicht das sein, was es im letzten Jahr und auch in all den Jahren zuvor gewesen ist.

S. weiß, dass die Kälte, die auf der anderen Seite der Glasscheibe ihre Klauen nach all der Wärme ausstrecken will, nicht ins Haus gelangen kann. Trotzdem kommt es ihr so vor, als ob die Glasscheibe nicht genug Schutz bieten würde und bemerkt regelrecht, wie sie in ihrem Inneren eine gewisse Kälte verspürt – obwohl die Heizung ganz aufgedreht ist.

Wehmütig denkt sie an ihre Familie, die sie schon so lange nicht mehr gesehen hat. Heute wäre sie mit ihren Verwandten am reich gedeckten Tisch gesessen und hätte es sich gut gehen lassen, sich ausgiebig mit ihrer Tante freundschaftlich gestritten und mit dem Opa Witze über die Politik gemacht.

Jetzt, zu dieser Stunde wären sie alle gemeinsam in die Kirche gegangen.

Doch in diesem Jahr ist alles anders, obwohl Christus immer noch geboren ist und Frieden mit sich bringt. Doch auch der Frieden stellt für S. nur ein seltsames Konstrukt aus angeblicher Geborgenheit und stiller Wachsamkeit dar – und sie weiß, dass Milliarden von Menschen überall auf der Welt ähnlich fühlen, wie sie:

In Deckung vor dem unsichtbaren Feind, die Ohren gespitzt und im Haus in Sicherheit gebracht.

„Dieses blöde Virus, warum musste das gerade jetzt auftauchen? Warum bei uns?“

Eine kleine Windböe wirbelt den Schnee vor ihrem Haus auf, als solle das unter den Schneemassen Verborgene wieder ans Tageslicht befördert werden. Vielleicht die Wahrheit? Die Erklärung dafür, warum alles im Moment so absurd ist?

S. horcht auf. In der Ferne erklingt ein leiser Glockenschlag.

Und in diesem Moment entwickelt sich ein leiser, aber deutlicher Gedanke in S.’ Kopf. „Was wäre, wenn das Ganze auch sein Gutes hat? Es gibt doch nicht immer nur eine Sichtweise, man muss nur die Perspektive ändern.“

S. scheint nun wie aus einer Trance langsam zu erwachen. Sie schaut sich langsam zu allen Seiten des Raumes um. In dem Moment, als ihr schweifender Blick auf einem alten Foto ihrer Familie verweilt, nimmt S. einen zweiten Glockenschlag war, diesmal etwas lauter.

Ihre Familie – hat sie ihr nicht immer Geborgenheit, Trost und Liebe gespendet? Besonders als sie es am nötigsten hatte?

Ein dritter Glockenschlag. Ganz deutlich zu hören. Und mit dem Verklingen des Tons, dem dritten Glockenschlag, fällt es S. wie Schuppen von den Augen: die Gemeinschaft! Sie ist das Wichtigste, das ihr von ihrer Familie gegeben wird und die sie wie einen prachtvollen Schatz geborgen in ihrem Herzen immer mit sich trägt.

Und mit dieser Erkenntnis wird es S. schlagartig warm ums Herz. Die Eiseskälte zieht ihre langen, dünnen Finger durch die Ritzen und Spalten zurück. Ein Blick vor die Haustür verrät S., dass es nicht nur ihr wärmer wird, sondern auch der Schnee allmählich zu schmelzen beginnt. Als S. die Glasscheibe im Fenster kippt, strömt frische Luft in ihre Lungen.

Auch den Nachbarn scheint die Veränderung aufgefallen zu sein. Sie treten vor die Haustüren und atmen die Luft ein, die ihnen gefehlt hat, ohne dass sie es so richtig bemerkt haben – die Lüfte der Energie spendenden Zuversicht.

„Warum musste das Virus gerade jetzt auftauchen? Warum bei uns?“

S. glaubt, der Antwort auf diese Frage nun etwas näher zu sein.

Auch wenn das Virus die ganze Welt auf den Kopf gestellt hat und auch viele Probleme verursacht, scheinen wir langsam zu verstehen, worauf es wirklich ankommt: auf den Zusammenhalt, die Gemeinschaft, die Fürsorge – der eigentliche Grundstein, der uns immer mehr verloren gegangen ist und den wir nun endlich wiedergefunden haben.

Und mit dieser neuen Zuversicht kommt S. ein weiterer Gedanke in den Sinn: „Wenn wir außerdem eines daraus lernen, dann, dass in der Ruhe die Kraft liegt. Das Sprichwort ist sogar weit bekannt. Nur scheint es nun auch eine ganz neue Bedeutung bekommen zu haben“.

S. kehrt ins Haus zurück, tritt über die Schwelle und schaut selbstbewusst in das nun von Zuversicht glänzende, wohlig-warme Wohnzimmer.

Warum hatte sie es nicht auch vorher schon so wahrgenommen? An der Situation hatte sich doch gar nichts geändert – oder etwa doch?

Tatsächlich hatte es eine Veränderung gegeben. Und zwar in S.’ Sichtweise. S. sieht nun den wahren Kern, das Wesentliche, das, worauf es eigentlich ankommt.

Und wisst ihr was? Genau dieser kleine Gedanke hat Großes bewirkt.

So hat S. ihre Familie und ihre Freunde mit ihrer Zuversicht und Liebe angesteckt, sodass doch noch ein schönes Weihnachtsfest stattfinden konnte.

Etwas anders als sonst – per Videokonferenz.

Aber dennoch ist es ein würdiges Weihnachtsfest gewesen. Nicht alles war anders als in den Jahren zuvor: Von den freundschaftlichen Streitgesprächen mit der Tante und den Witzen über die Politik mit dem Opa ist sie auch in diesem Jahr nicht verschont worden. Und nichts anderes hatte sich S. gewünscht: kostbare Zeit mit der Familie, mit Witz und guter Laune.

Und macht das nicht auch das Weihnachtsfest aus?

Endlich zur Ruhe zu kommen, mit den Liebsten das Wunder zu teilen, das schon vor so langer Zeit geschehen ist und die kleinen Wunder zu feiern, die auch heute noch geschehen?

Für S. ist der alljährliche Geschenke-Marathon sowieso überflüssig. Wer braucht schon einen Berg an mit Geschenkpapier umwickelten Päckchen und Paketen, wenn man doch das Wichtigste, die Familie, schon besitzt?

S.’ Weihnachtsgeschichte steht nur beispielhaft für die Erlebnisse, die jeder in diesem Jahr gemacht hat.

Das Weihnachtsfest und auch Silvester waren in diesem Jahr ganz anders, als wir es uns vorgestellt haben. Weniger sozialer Kontakt, Ausgangssperren, die Liste könnte noch viel weiter ausgeführt werden.

Doch im Wesentlichen ist ja jedes Weihnachtsfest und jedes Silvester nicht so wie in den Jahren davor.

An Weihnachten zählt die Gemeinschaft und diese wurde nicht „unterbrochen“, vielmehr in anderer Form ausgeführt. Und an Silvester haben alle dem neuen Jahr entgegengefiebert, wie sonst auch. In diesem Jahr ohne große Party und Feuerwerk.

Aber auch hier sieht man wieder ganz deutlich: Die Feiern und das Feuerwerk sind zwar schön und machen Spaß, doch hat man der Umwelt in diesem Jahr einen großen Gefallen getan – und sich selbst auch: dann machen die Feiern in Corona freien Zeiten noch viel mehr Spaß. Und: Das neue Jahr musste so oder so kommen, das ist klar.

Doch den frischen Wind der Veränderung nimmt man oft erst dann wahr, wenn man ihn auf der Haut spürt. Und auch dieses Jahr wird er zu spüren sein.

Text: Johanna Gehlen

Bild: https://pixabay.com/de/images/search/schneeflocken%20vor%20dem%20fenster/